Ausgeträumt. Band 2: Entdeckungen
ISBN: 3883472425
Mit nunmehr 76 mag so Mancher tatsächlich „ausgeträumt“ haben. Doch obwohl der jetzige Bibliothekar- und Soziologen-Pensionär seine 2-bändige Autobiographie „Ausgeträumt“ nannte, ist überhaupt nichts von einer auf Desillusionierung berührenden Ernüchterung zu spüren, gar von einer Lähmung. Da träumt einer offenbar immer weiter. „Das kann nicht alles sein“, heißt der allerletzte Satz. Einer, den ich von Volker Braun kenne, er dem „Eigentlichen“ auf der Spur.
Göhler beschreibt in Band 2 (Besprechungen zu Band 1, von dem mittlerweile eine geringfügig veränderte Neuauflage vorliegt, erschienen in bub 6/04 und ID 13/04) sein „zweites Leben“, wie er es selbst nennt. Das beginnt mit der „Welt im Umbruch“ - so der Titel des Einführungskapitels, der auch zum „Umbruch“ in seinem eigenen Leben führte. Der einstige Bibliotheksdirektor und zuletzt Vize-Chef des DDR-Zentralinstituts für Bibliothekswesen (ZIB) erlebt die „Wende“ (den „Umbruch“) offenbar ganz aufnahmebereit, ganz aktiv, nicht angekränkelt von Depressionen. Dabei hat er „Abwicklungen“ in großem Ausmaße zu verkraften, die seiner selbst, die von Freunden und Mitstreitern, die seiner jahrzehntelangen Wirkungsstätte, dem ZIB, das zum großen Teil vom dbi geschluckt und dann schließlich mit diesem gemeinsam im Orkus verschwand. Wiederum bei Braun fand ich gerade einen Text mit der Beschreibung eines Mannes, der „nach der Wende im Jahre 1989 zum Greis mutierte… Er wurde abgewickelt mit dem Institut, und sah nun alt aus. Er wurde, mitten in aller Bewegung, in den Ruhestand versetzt. Und schlich, ein Rentner, durch die Rabatten.“ Ganz anders Göhler. Er blieb - wie zu lesen ist - trotz allem ein Hans Dampf im nun sich sacht vereinenden deutschen Bibliothekswesen, mischte in Kommissionen und auf Konferenzen mit, beim Fixieren eigener Erfahrungen und der von Berufskollegen. Trotz einer großen Zahl von Details bleibt Göhler bei der Benennung von Ross und Reiter manchmal im Ungefähren; Insider werden sich dennoch ihren Teil denken können. Er selbst hatte den Vorteil der frühen Geburt, musste sich nicht ins Getümmel des Vermarktens eigener Kenntnisse und Fähigkeiten stürzen. Stattdessen: Gelassenheit. Auch Realitätsferne? So richtig wird das für mich nicht deutlich. Göhler kann nun in aller Ruhe von neuen Leseerfahrungen und literaturpolitischen Bemühungen auch außerhalb von Bibliotheken berichten - etwa als Teilhaber im neugegründeten C.Links-Verlag. Zum „Zeitzeugen“ ist er geworden. Davon schreibt er stolz. Immerhin hat er in 70 Jahren drei Gesellschaftsordnungen erlebt. Der Zeitzeuge ist zugleich Beobachter. 2002 schaut er nach, wie sich die ÖBs in der Suhler Region (seiner alten Heimat) und in brandenburgischen Landkreisen entwickelt haben. „Wesentliche Veränderungen“ kann er erfreut konstatieren. Zugleich ebenso erfreut: „Manches bleibt eben doch.“ Es sind erste in Buchform vorliegende, allerdings sehr fragmentarische Berichte über Entwicklungen im Bibliothekswesen auf einstigem DDR-Territorium. Von vielen Begegnungen erzählt Göhler (und das Register listet alle auf - von Adam/ekz bis Zitzlsberger/Stiftung Lesen), er fragt (wenngleich für meine Begriffe viel zu wenig), wertet - politisch, fachlich, persönlich. Nicht alle Wertungen vermag der Rezensent zu teilen, produktiv aber für weiteres Nachdenken sind sie oft. Sogar in den sehr subjektiven Abschnitten. Doch ist Göhler vielleicht zu subjektiv? Ach wo, Subjektivität ist das Fleisch jeder Autobiographie. Und wenn jemand lodert, für seinen Beruf, für seine Familie, warum sollte er das verbergen? Wahrscheinlich kann ein Mensch mit diesem Temperament und auch dieser unverborgenen Liebesgier nur in Maßen pur objektiv sein.
Noch stärker als in Band 1 gerät dem Pensionär das sehr Private ins Blickfeld, seine große, weitverzweigte Familie. Man darf sich in knappe Biographien etwa der Schwester oder des Großvaters und liebevolle Zuwendungen vertiefen. Das kann von Vorteil sein. Ein anderer Bibliothekar (ich denke an Paul Raabe und sein „Bibliosibirsk“) präsentierte allein sein „bibliothekarisches Leben“ der Öffentlichkeit, nur im Nachwort findet er „einige persönliche Worte“, lediglich erwähnt werden „meine Frau und meine vier Kinder“. Göhler will anders als Raabe nicht nur eine halbierte Person vorstellen, er zeigt sich ganz, entblößt sich so zuweilen auch - als ein Mensch, für den neben Leitungsprozessen und Buchbeständen auch sinnenfrohe Welt- und Menschenerkundungen ganz wesentlich zu den Pluspunkten des Lebens gehören. So weit, so gut. Doch erst in der Beschränkung - wissen wir Bibliomanen - erweist sich der Meister. Interessieren solch familiäre Verwicklungen in allen Verästelungen Fremde wirklich in ausreichendem Maße? Göhler wollte wohl auf nichts verzichten. Ganz besonders nicht, wenn es ums Reisen ging. Gerade Einem, dem lange verwehrt war, die ganze Welt zu sehen (und ich verstehe das wohl, erfuhr und erlitt selbst, wie schlimm das war), juckte es scheinbar förmlich, an dieser neuen Reiselust den Rest der Welt teilhaben zu lassen. Vorrangig sind es Reisen „in die Dritte Welt“, aber auch u. a. nach Tschechien oder nach Norwegen. Dabei hat er - wie er schreibt - „Entdeckungen ohne Ende“, nur sind auch die Berichte wie „ohne Ende“, vollgetürmt mit Ballast und nebensächlichen Anmerkungen im Ansichtskartenstil für die Daheimgebliebenen. All das wäre nicht so ärgerlich, wenn derartige Reisebeschreibungen nicht fast die Hälfte des Bandes bestücken würden.
Als eine Art „Verdienter Bibliothekar des Volkes“ nahm die FAZ (5.8.1998) Göhler aufs Korn. Auch der 2. Band belegt, dass er dies - mal frei von aller Ironie - wohl tatsächlich gewesen ist. Mit dieser Lebensbeschreibung taucht er beim Leser wie ein kräftiger (sinnenfroher) Vollblutkomödiant auf, für ihn sind die Bretter der Bibliothek seine Welt, in der er selbst noch als Senior selbstbewusst, engagiert, stürmisch, vielleicht auch mal zu stürmisch - namentlich in den Partnerbeziehungen und außerhalb der hehren Bibliotheksräume -, auftritt. Meines Wissens ist dies immer noch die einzige Monographie, in der ein Bibliothekar aus der DDR sein Leben vor und nach dem Umbruch darstellt. Und dieses Leben konnte auch - mancher Westleser wird sich erstaunt die Augen reiben - äußerst intensiv, lustvoll und erfolgreich sein, mit Verbiegungen im meist eher geringfügigen Umfang. Diese allerdings bleiben bei Göhler letztlich ganz außen vor. Ein Scheitern findet nie statt, nicht vor 1990 (siehe Band 1), nicht danach. Er ist hier der Selfmademan, der heiter-flockig mit „Hoppla, jetzt komme ich“ schon alles nach seinem Gusto richtet. Ich bezweifle, dass das so ausgerechnet bei ihm - und noch dazu in den oberen Etagen einer argwöhnisch beäugten Kultur- und Literaturpolitik - ständig funktioniert haben sollte. Dem Vorwurf einer größeren Portion Verklärung muss sich - finde ich - Göhler durchaus stellen. Zumal eine harte Selbstbefragung nicht einmal ansatzweise zu finden ist. Leser, die nicht über das Zeitwissen von Göhlers Generation, über das eigene Erlebnis gesellschaftlicher Zwänge und Gebrechen verfügen, könnten zuweilen in die Irre laufen. Wiederum: Nirgendwo sonst als in den von Göhler verfassten oder von ihm herausgegebenen Bänden (allen voran: „Alltag in öffentlichen Bibliotheken der DDR“, Bad Honnef 1998; BA 10/98) erfahren Wissbegierige mehr über das - hier vor allem: öffentliche - Bibliothekswesen der DDR mit dem Blick und dem Wissen von heute. Wie diese Bücher ist auch der neue Band materialreich, zugleich locker, stellenweise fast unterhaltsam - die Chronik eines Bibliotheksalltags, für den es besonders in den Jahren unmittelbar nach der Vereinigung (auch in dieser Zeitschrift) vorrangig nur Demütigungen und Maßregelungen gab, zuallererst das Verlangen nach Buße und Rechtfertigung. Scheuklappen, die damals so Mancher glaubte aufsetzen zu müssen, erweisen sich spätestens auch nach der Lektüre dieser Autobiographie als unakzeptabel. Bedauerlich, dass der Sprachstil ziemlich uneinheitlich ist. Manches ist grob behauen, manches ein wenig schwülstig. Schade auch - und das geht auf das Konto des Verlages -, dass dieses Buch des Literaturvermittlers anderen Literaturvermittlern Probleme bereiten könnte, das Buch unter die Leute zu bringen. Das kahle Äußere, die nicht gerade aussagekräftige Titelbeschreibung, die ganz und gar fehlenden Werbetexte zum Inhalt und zum Autor auf dem nahezu total unbedruckten Einband laden nicht gerade zur Lektüre ein.
Einem anderen Buch stellte Göhler den Fühmann-Satz „Was wir nicht aufschreiben, ist verloren“ voran. Ob Göhler damals schon daran dachte, selbst zum Literaten zu werden, weiß ich nicht. Aber jetzt hat er nun seine Erinnerungen aufgeschrieben, sie sind also nicht verloren und auch sie dokumentieren, was er damals über Texte von ihm zusammengeführter Autoren vermerkte, dass es “ - natürlich gefiltert durch ein (1996) 6-jähriges Leben in der Bundesrepublik Deutschland - … in der DDR komplizierter, differenzierter, konstruktiver, bunter und konfuser“ zuging als häufig geglaubt. Davon vor allem ist ganz offensichtlich auch Göhlers „zweites Leben“, das nach der DDR, geprägt.
Gert Kreusel