Ich habe einen Traum… »Ein Bibliothekar erzählt sein Leben in der DDR«

Göhler, Helmut: Ausgeträumt. Aufzeichnung eines Bibliothekars. 2.überarbeitete Auflage. Bad Honnef: Bock + Herchen, 2005 (Bibliothek und Gesellschaft). 230 Seiten. –
broschiert Euro 16,80


Hans Joachim Funke

Ein Fachbuch ist es nicht, das hier zur Anzeige kommt; ein Bibliothekar erzählt lediglich sein Leben bis 1989. Das aber ist in mehrfacher Hinsicht von Interesse. Es kommt erstens nicht so häufig vor, dass Bibliothekare Memoiren schreiben; verrät zweitens (wie noch zu zeigen sein wird), dass bibliothekarisches Engagement und belletristische Ambitionen einander nicht ausschließen; und es ist von gewisser gesellschaftspolitischer Relevanz – es handelt sich um einen Bibliothekar aus der DDR.

15 Jahre nach der Einigung ihres Landes, scheint in den Köpfen sowohl der West- als auch der Ostdeutschen die deutsche Einheit noch längst nicht bewältigt zu sein. Abgesehen vom rein Materiellen ist es vor allem ihre unterschiedliche Sozialisation, die sie unterscheidet. Friedens-Nobelpreisträger Willy Brandt benannte das Wünschenswerte, als er meinte, dass zusammen wachsen müsse, was zusammen gehöre, und Büchnerpreisträger Volker Braun sieht das Problem, wenn er dichtet: „Als die Mauer fällt / Seh ich die Mauern in mir“. Diesem Zustand entgegen zu wirken, muss etwas getan werden und wird einiges getan. So fielen mir zum Beispiel die im Eichborn-Verlag erschienenen Memoiren der völlig unbekannten Agnesa Kadur aus Zwickau/Ostberlin in die Hände. Egal, ob das Geschehen unbekannte Personen betrifft oder ob es „öffentlich“ war und mitverfolgt werden konnte, es wird ein Vergleich mit den eigenen Lebenserfahrungen provoziert. Nur, wer seine Erlebnisse und Erfahrungen mitteilt, kann Verständnis beim jeweils anderen erwecken. Das trifft auch auf die Lebensgeschichte des Helmut Göhler zu.

Göhler, Jahrgang 1930, erlebt den Zusammenbruch des Dritten Reiches auf einem Rittergut, lernt dann Zimmermann, geht „auf die Walz“, führt ein bewegtes Leben und versucht sich in verschiedenen Berufen, u.a. auch 1950/51 als Bergarbeiter im Ruhrgebiet. 1954 gab er unter dem Eindruck überwältigender Lektüreerlebnisse und im Glauben an die weltverändernde Kraft der Literatur seinem Lebensweg eine andere Richtung. Er beschließt, Bibliothekar zu werden und glaubt, diese Berufung besser in der DDR realisieren zu können. Er glaubt, dort mithelfen zu können, „einen Menschheitstraum zu verwirklichen“ (S. 228).

Er schreitet mit großem Ernst zur Tat, nimmt 1954 eine Bibliothekarstelle in Charlottental im mecklenburgischen Landkreis Güstrow an (auf einer Maschinen- und Traktorenstation), wird bald darauf in die Stadt- und Bezirksbibliothek Suhl versetzt, lässt sich parallel zur bibliothekarischen Tätigkeit von 1955 bis 1960 auf einem Sonderlehrgang in der Bibliothekarschule in Sondershausen zum Bibliothekar ausbilden, bewältigt ein Philosophiestudium an der Friedrich-Schiller-Universität Jena (1960-1965), wird 1965 Direktor in Suhl, und 1971 erfolgt seine Promotion zum Dr. phil. am Institut für Bibliothekswissenschaft und wissenschaftliche Information an der Humboldt-Universität zu Berlin; landesweit die erste Promotion eines Praktikers aus dem Bereich des öffentlichen Bibliothekswesens.

Er ist von seiner Sache beseelt, ist optimistisch, denkt „positiv“, hat sich genau aus diesen Gründen, wie ich glaube, während seines Studiums mit Schopenhauers Glücksbegriff befasst, und glaubt an den Fortschritt – mit einem Wort: Er ist ein Sonntagskind (S. 11). Natürlich erlebt er auch Schwierigkeiten und Rückschläge. Er hat 12 Jahre lang Trouble mit seiner Partei, der SED, wegen seiner (längst verjährten) Republikflucht und früherer Mitgliedschaft in der Liberaldemokratischen Partei Deutschlands. Mitunter hadert er mit der Kulturpolitik seines Landes. Er und andere Mitglieder der beim Kulturbund angesiedelten und von den Literaturwissenschaftlerinnen Karin Hirdina und Sylvia Schlenstedt geleiteten „Zentralen Kommission Literatur“ bewerten z.B. Gegenwartsromane ganz anders als sie in der Tagespresse, im Politbüro oder im Kulturministerium bewertet werden. Zu Recht sieht der Autor gerade im Wirken dieser Kommission Glasnost-Ansätze. Auch im Privatleben läuft es manchmal nicht so, wie es sollte. – Aber er hat seinen Traum… und kann 1989 dennoch erkennen, dass es sich ausgeträumt hat.

Das Erinnerungsbuch besteht aus zwei Erzählsträngen und, soweit ich sehe, fünf eingestreuten Prosastücken. Zum einen wird der berufliche Werdegang geschildert, zum anderen aber auch der privat-persönliche. Die Abenteuer seiner Jugend und die Episoden mit Frauen, die ihn motivieren, ermutigen und voran bringen, sind am schönsten erzählt. Die haben eine gewisse literarische Dichte. Die genannten Einschiebsel sind in sich geschlossene Porträtstudien; die wohl unabhängig von diesem Erinnerungsbuch entstanden sind. In ihnen agiert Göhler zum Teil unter anderem Namen. Sie gingen bestimmt auch als eigenständig Novellistisches durch. Solche Porträtstudien widmet er seiner ersten Liebe, seiner zweiten Ehefrau (in Form eines Märchens) und einer Dame, die ihm 1980 (schon oder erst, je nach Betrachtungsweise, in jedem Fall aber vor Gorbatschows Perestroika) die Augen öffnete für Missstände im Land, nicht nur auf dem Gebiet der Kulturpolitik – der Puppenspielerin. Auch einer mysteriösen „Hexe“ wird gedacht, und es scheint mir nicht von ungefähr zu sein, dass diese Geschichte unmittelbar nach der Schilderung der Auswirkungen erzählt wird, die des sowjetischen Partei- und Regierungschefs Breschnew lähmende Politik auf die Entwicklungen in der DDR hatte. Dass im Anschluss an die „Hexengeschichte“ von einer (ungenannten) Mitarbeiterin die Rede ist, die ihm – er war inzwischen Abteilungsleiter für Bestand, Erschießung und Benutzung im Zentralinstitut für Bibliothekswesen (ZIB) in Berlin – aufoktroyiert wird und mit der er sich gar nicht versteht, wird wohl eher ein Zufall sein. Eine weitere Porträtstudie ist den Jugendfreunden Rolf Andrich und Dieter Albrecht gewidmet; der eine Dozent an der Leipziger Hochschule für Bauwesen, der andere stellvertretender Vorsitzender der Staatlichen Plankommission (gut, dass es ein Personenregister gibt! Register bewähren sich immer, wie schon Professor Horst Kunze wusste). Diese Erzählungen gewähren ganz persönliche Einblicke in und Aufschlüsse über das offizielle wie das Alltagsleben in der DDR, und sie unterbrechen den Gang der Lebensgeschichte aufs Unterhaltsamste.

Speziell für Bibliothekare dürften die Mosaiksteinchen von Interesse sein, die der Verfasser zur Bibliotheksgeschichte beizutragen weiß. So gibt er beispielsweise Hintergrund-Informationen über die Entwicklung eines in der DDR propagierten neuen Bibliothektyps, der Wissenschaftlichen Allgemeinbibliothek des Bezirks, und über die Einführung sowie Anwendung soziologischer Methoden in der Bibliotheksarbeit.

Die Personenbeschreibungen sind in aller Regel originell und bildhaft, der Erzählton unverstellt und lebendig, obwohl nicht alles gleich stark erzählt ist. Insbesondere in einigen Abschnitten des Hauptkapitels III bis zur Episode „Von Hexen“ klingen Fachjargon und DDR-spezifische Sprachregelungen durch. Dennoch werden all die auf ihre Kosten kommen, die allgemein gern Autobiographien lesen, denen es um das Verständnis von sowohl „staatstragender“ als auch dissidentischer Ost-Mentalität geht, die bibliothekshistorisches Interesse haben und die Insider sind und in irgendeiner Form mit den hier geschilderten Ereignissen und Institutionen zu tun gehabt haben.

Schade, dass die „Wende“ im ZIB (seine Auflösung und Überführung in das Deutsche Bibliotheksinstitut) nicht mehr erzählt wird. Aber wie ich den Autor einschätze, sitzt er sicher schon an der Fortsetzung seiner Memoiren.

Veröffentlicht in „Buch und Bibliothek“ Heft 6 2004

Oder: Verlagsankündigung in „Buch und Bibliothek“ Heft 5, 2004

Die autobiographischen Erinnerungen eines Bibliothekars, der die DDR von Anfang bis Ende erlebte. Helmut Göhler, 1930 geboren, gelernter Zimmerer, 1950 als Bergarbeiter im Ruhrgebiet tätig und 1954 aus freien Stücken als Bibliothekar nach Mecklenburg gegangen, erzählt im lesenswertem Stil seine eigene Geschichte, eine deutsch-deutsche Geschichte wie sie nur von wenigen hautnah erlebt wurde. Göhler erlaubt tiefe Einblicke in sein wechselvolles Leben und seine berufliche Karriere bis hin zum Leiter der Abteilung Bestand, Erschließung und Benutzung am Zentralinstitut für Bibliothekswesen.

Das Buch eröffnet zudem wissenschaftlich bedeutende Einblicke in die bibliothekarischen Abläufe in der DDR und vermittelt Verständnis für viele aus heutiger und insbesondere „westlicher“ Sicht nicht mehr nachvollziehbare Gegebenheiten und Abläufe.

Ausgeträumt. Band 2: Entdeckungen

Ein Beitrag von Gert Kreusel

Mit nunmehr 76 mag so Mancher tatsächlich “ausgeträumt” haben. Doch obwohl der jetzige Bibliothekar- und Soziologen-Pensionär seine 2-bändige Autobiographie “Ausgeträumt” nannte, ist überhaupt nichts von einer auf Desillusionierung berührenden Ernüchterung zu spüren, gar von einer Lähmung. Da träumt einer offenbar immer weiter. “Das kann nicht alles sein”, heißt der allerletzte Satz. Einer, den ich von Volker Braun kenne, er dem “Eigentlichen” auf der Spur.
Göhler beschreibt in Band 2 (Besprechungen zu Band 1, von dem mittlerweile eine geringfügig veränderte Neuauflage vorliegt, erschienen in bub 6/04 und ID 13/04) sein “zweites Leben”, wie er es selbst nennt. Das beginnt mit der “Welt im Umbruch” – so der Titel des Einführungskapitels, der auch zum “Umbruch” in seinem eigenen Leben führte….

Alltag in Öffentlichen Bibliotheken der DDR

Beitrag von Prof. Dr. Konrad Umlauf

Philosophische Fakultät I, Institut für Bibliothekswissenschaft

http://www.ib.hu-berlin.de/~kumlau/handreichungen/h76/

Der Beitrag geht der Frage nach, wieweit die Öffentlichen Bibliotheken in Deutschland heute Dienstleistungen erbringen oder Anknüpfungspunkte dafür bieten, die im Kontext des lebenslangen selbstgesteuerten Lernens stehen. Ein geschichtlicher Rückblick zeigt die Herkunft der Öffentlichen Bibliotheken aus Bildungsbewegungen. Das heutige Selbstverständnis der Öffentlichen Bibliotheken umfasst ein sehr breites Aufgabenprofil, darunter auch Bildungsfunktionen und die Funktion als Lernort….

Ausgeträumt, Aufzeichnungen eines Bibliothekars

Lebendig und unverstellt erzählt der Autor über seinen Weg vom Landarbeiter, Zimmermann, Bergmann, zum Bibliothekar, Diplomphilosoph und Doktor der Philosophie. Ein solcher Weg war bei Engagement in der DDR möglich. Dass der Autor dabei von einem Grunderlebnis der Wirkung der Literatur auf die eigene Persönlichkeit ausgehend, sein Leben so ausrichtet und seine Energie bündelt, um eine ähnliche Wirkung bei vielen Menschen zu erzielen, ist ungewöhnlich….